Die technische Umsetzung des Bundesschatzes ist nur eines der spannenden Projekte des Wiener Individualsoftware-Spezialisten irian. ITWelt.at sprach mit Martin Marinschek, der gemeinsam mit Thomas Spiegl das Unternehmen gegründet hat.
Vor kurzem ist die Neuauflage des Bundesschatzes herausgekommen. Wie schon beim ersten Mal waren Sie für die Entwicklung der Webapplikation verantwortlich. Wie ist es zu der Zusammenarbeit gekommen?
2002 haben wir die erste Version entwickelt, die sehr gut von den Kunden angenommen worden ist. Das war noch vor der Gründung der Firma im Jahr 2004. Nachdem die Zinsen 2019 auf null Prozent gefallen waren, hat die Österreichische Bundesfinanzierungsagentur das Projekt eingestellt. Jetzt ist die Situation wieder eine ganz andere. Die Anleihenzinsen für sämtliche Laufzeiten sind deutlich gestiegen, daher kam es zur Wiederauflage. Da das Knowhow der ersten Version im Unternehmen noch vorhanden und das Projekt zeitkritisch war, haben uns die Verantwortlichen gebeten, bei der Ausschreibung teilzunehmen. Wir konnten in nur fünf Monaten die neue Web-Applikation bestehend aus der kundenseitigen Web-Applikation und dem Administrationsteil – der internen Applikation inklusive Zahlungsabwicklung – entwickeln und in die Infrastruktur des Bundesrechenzentrums integrieren.
Sie haben kommuniziert, dass Rekordzeiten nur dann möglich sind, wenn sie unter anderem an die Aufgaben proaktiv herangehen. Wie ist das in dem konkreten Fall zu verstehen?
Wir warten nicht darauf, dass die Anforderungen an uns herangetragen werden, sondern denken selber nach.
Kann es nicht passieren, dass Sie dabei falsch abbiegen?
Natürlich. Deswegen sind uns auch enge Rückkopplungszyklen extrem wichtig. Wir arbeiten seit Beginn – also seit es die agile Methode gibt, aber auch schon davor – genau auf diese Weise. Wir beginnen mit der Entwicklung, nach zwei, drei Wochen sammeln wir das Feedback des Kunden ein und ziehen uns danach wieder für zwei, drei Wochen zurück.
Kommt es öfters vor, dass ein Kunde selber nicht weiß, was er will?
Das ist eigentlich der Normalfall. Sehr oft helfen wir auch beim Verständnis, was eigentlich Sinn macht und wie Ideen optimalerweise umgesetzt werden sollten. Wir sind ein eingeschweißtes Teams mit sehr langer Erfahrung. Dadurch können wir Kunden helfen, herauszufinden, was eigentlich beabsichtigt wird. Consulting ist einer unserer Fachbereiche, nicht nur die Umsetzung.
Sie haben das Unternehmen 2004 gegründet. Wie ist es dazu gekommen?
Wir kommen alle aus dem Open Source-Umfeld, wir haben in unterschiedlichen Projekten zusammengearbeitet. Es sind Unternehmen auf uns zugekommen, die Beratung und Umsetzungen in diesem Umfeld nachgefragt haben. Wir brauchten dafür ein Vehikel und haben irian gegründet. Aus den reinen Open-Source-Projekten wurden allgemeine Software-Projekte. Wir beschäftigen derzeit rund 90 Entwickler und Entwicklerinnen an vier Standorten: Wien, Oldenburg, Zürich und Timisoara in Rumänien.
Wie schwer ist für Sie Mitarbeitende zu finden?
Qualifizierte Leute zu finden, ist nicht einfach. Wir sind jedoch immer organisch gewachsen, langsam aber stetig. Die Mund-zu-Mund-Propaganda spielt bei uns eine wichtige Rolle. Zu uns kommen Leute, die wir bereits aus der Open-Source-Community kennen, von der Universität oder Fachhochschule. Die besten Studenten und Studentinnen laden wir zu uns ein.
Wer ist der ideale Mitarbeiter, die ideale Mitarbeiterin?
Bei uns sind nur Leute, die eine gewisse Leidenschaft für die Technik mitbringen, die Software-Entwicklung als persönliche Passion sehen, nicht bloß als Beruf. Wir sehen uns Bewerber vorher genau an, ob sie ins Team passen.
Was sollte man Entwicklern idealerweise bieten?
Es sollten spannende Projekte sein, das Team muss passen. Sie brauchen auch große Freiheiten, Homeoffice ist Standard. Es gibt ein paar Meetings, bei denen die Teilnahme verpflichtend ist, sonst herrscht freie Zeit- und Ortseinteilung vor.
Wie war das während Covid?
Corona haben wir überhaupt nicht gemerkt, es gab bei uns keine Änderungen, wir haben schon davor so gearbeitet. Der einzige Unterschied war, dass wir nicht zu den Kunden fahren konnten.
Sie haben beeindruckende Referenzen. Wie kommen Sie zu den multinationalen Kunden?
Bis vor einem Jahr hatten wir kein Marketing oder Sales. Wir sind immer angefragt worden. Oft ist es so, dass wir die Ruinen von schiefgegangenen Projekten anderer Anbieter übernehmen. Dann müssen wir mit dem Rest des Budgets und meist unter hohem zeitlichen Druck Lösungen finden. Wir haben in der Branche den Ruf des Problemlösers. Wir sind quasi die Quick Reaction Force.
Kann es passieren, dass in so einem Fall alle Programmierer für ein bestimmtes Projekt aktivert werden?
Software-Entwicklungsprojekte funktionieren nur mit gewissen Größen, mit 100 Leuten wird es schwierig. Wir versuchen immer, so weit es möglich ist, zu modularisieren, die Aufgaben herunterzubrechen. Eine optimale Teamgröße ist fünf bis sieben.
In welchen Bereichen sehen Sie die Kompetenzen Ihres Teams am größten?
Wir haben sehr hohe Kompetenz im Java-Bereich, keine Frage. Es gibt jedoch keinen Software-Entwickler mit 30 Jahren Erfahrung, der nicht im Laufe der Zeit zehn, 15 verschiedene Sprachen verwendet hat. Das Schöne daran ist: Wenn man in einer Sprache besser wird, verbessert sich das Knowhow auch in den anderen Sprachen.
Wo steht die individuelle Software-Entwicklung heute? Heißt es nicht, dass sich alles in Richtung Standardisierung bewegt – besonders in Verbindung mit der Cloud?
Meine persönliche Meinung dazu ist: Wenn es eine Standardsoftware gibt, die genau das macht, was benötigt wird, dann entwickle auf keinen Fall individuelle Software. Jetzt kommt ein großes Aber, und von diesem Aber leben wir: Es gibt immer Situationen, in denen ein Unternehmen spezielle Anforderungen abdecken will, wo es schnell und dynamisch auf Anforderungen des Marktes reagieren muss, wo bestimmte Prozesse, die einen Mehrwert bieten, nicht durch eine Standardsoftware abgedeckt sind – in all diesen Fällen macht individuelle Software-Entwicklung Sinn. Es geht also um Situationen, in denen ein Unternehmen einen Mehrwert am Markt bietet, was eine Standardsoftware niemals erzielen kann, weil jeder sie gleich verwenden kann.
Ein Beispiel: Eine Bank will Trades schneller abwickeln als alle anderen am Markt. Mit Standardsoftware kommt man da nicht weit, das wissen die Kunden, die zu uns kommen, weil sie sie schon probiert haben. So haben wir einige individuelle Trading Solutions gebaut. Außerdem sind etwa Schweizer Banken mit vier Regulatoren konfrontiert, die unglaublich komplexe Anforderungen stellen, die Jahr für Jahr noch komplexer werden.
Ein anderes Beispiel ist Identity und Access Management, einer unserer weiteren Schwerpunkte. Eine Großbank in der Schweiz mit Standorten in allen Weltregionen brauchte in diesem Bereich eine Lösung, die global ausgerollt werden konnte, sodass alle Regulatoren zufrieden sind und jedes Jahr das Audit ordentlich über die Bühne gehen kann. Wir haben für die Credit Suisse im Laufe von 20 Jahren das gesamte IAM-Portfolio mit 60 Applikationen und fünf Millionen Zeilen Code gebaut. 50.000 Mitarbeiter und Millionen Kunden werden darüber gespielt – ein komplexes Riesensystem. Das bekommt eine Standardsoftware niemals hin. Das hat nur funktioniert, weil wir bei der Identity- und Access-Management-Landschaft Schritt für Schritt vorangegangen sind, Modul für Modul. „Divide et impera“ gilt auch für die Software-Entwicklung. Der Microsystems-Ansatz in der Software-Architektur, der in den letzten Jahren sehr gehypt wurde, geht uns zu weit, weil der Detaillierungsgrad zu hoch ist.
Wie gut sehen Sie sich durch die Open-Source-Community unterstützt?
Wir lieben Open Source, wir setzen uns dafür ein, wir tragen zur Weiterentwicklung bei. Open Source ist auch nicht perfekt, aber wenn etwas nicht funktioniert, kann ich es ändern. Gibt es ein Problem, kann man die Community fragen. Open-Source-Communities sind viel offener als Unternehmen, die sich als starre Blöcke präsentieren.
Welche Rolle wird KI aus Ihrer Sicht spielen?
Ich bin nicht der Typ, der gerne auf Hypes aufspringt. Ich habe nie verstanden, warum so viel über Bitcoins und Blockchains gesprochen wird. Bei der KI ist das anders, KI wird in den nächsten 20 Jahren eine große Rolle spielen. Dadurch wird es möglich sein, Forschung zu betreiben, so viel man will, wir werden völlig neue Dinge erschaffen. Es wird auch viel einfach werden, Software zu entwickeln. Ich glaube daher, dass KI dafür sorgen wird, dass wir in Zukunft mehr Individualsoftware sehen werden, die mit KI-Unterstützung entwickelt wird.
Dadurch dass jedem einzelnen im Prinzip unbegrenzte Intelligenz zur Verfügung steht – und das zu niedrigsten Kosten –, und damit die Möglichkeit besteht, alles Denkmögliche umzusetzen, dann benötige ich keine unternehmerischen Strukturen mehr oder 100 Leute, die meine Ideen realisieren. Da stellt sich die Frage, ob es in Zukunft überhaupt noch Unternehmen geben wird.
Was wir unbedingt brauchen, ist eine Grundsicherung. An der führt kein Weg vorbei. Und wir haben eine KI, die für uns arbeitet.
Damit ist die Industrialisierung endgültig vorüber, in der der Wert eines Menschen sehr stark mit seiner Arbeitsleistung verknüpft ist.
Ja, und das ist ein falscher Wert, den wir den Menschen beimessen. Was in Zukunft viel wichtiger sein wird, ist soziale Kompetenz und Kreativität.
Ich habe zwar schon einige KI-Projekte umgesetzt, aber trotzdem letztes Jahr den Entschluss gefasst, wieder auf die Uni zu gehen, um mich stärker mit dem theoretischen Background im Bereich KI auseinanderzusetzen. An der Uni habe ich gesehen, wie befruchtend die Interaktion mit ChatGPT sein kann, wenn man generell ein neues Feld betritt, von dem man noch keine Ahnung hat – das ist der Mentoring-Aspekt von KI.
Welche Projekte, berufliche wie private, stehen bei Ihnen vor der Türe?
Wir freuen uns, wenn neue Projekte an uns herangetragen werden. KI ist sicherlich das Thema, wofür ich die meiste Zeit verwenden werde.